Wie kann ich anderen verzeihen?

Diese Frage höre ich immer wieder (und ja: Ich stell‘ sie mir manchmal auch selbst): Wie kann ich anderen verzeihen? In der zweiten Staffel unseres Psychologie-Podcasts „Sag mal, du als Psychologin …“ haben Muriel, Barbara und ich darüber ziemlich ausführlich gesprochen.

Es gibt tatsächlich eine spezielle Form der Therapie, die „Forgiveness Therapy“ des Psychologen Robert Enright von der University of Wisconsin-Madison. Bei ihm läuft der Prozess des Verzeihens in vier Phasen ab.

I. Die Phase des Entdeckung

Normalerweise hängen wir uns im Alltag ja intuitiv am Anlass unserer Verletzung auf: Mein Partner ist fremdgegangen, ein Freund hat mein Geheimnis ausgeplaudert, mein Kollege hat mich vor dem ganzen Team angebrüllt – wie konnte er nur! Robert Enright lenkt den Blick seiner Klientinnen und Klienten relativ schnell auf etwas anderes: Was hat dieses Ereignis seither mit mir gemacht? Nicht nur psychisch, sondern auch körperlich? Oft erzählen die Betroffenen dann, dass sie Schlafprobleme haben, chronisch übermüdet sind, sehr viel grübeln und so weiter. Das ist ein Phänomen, das wir in der Psychologie ja häufig sehen: Die sekundären Effekt sind schlimmer als diese ursprüngliche Verletzung selbst. Ich schreibe das übrigens nicht mit einem zeigenden oder erhobenen Finger. Wenn da ein Zeigefinger im Spiel sein sollte, dann zeigt er auf mich selbst: Das Verzeihen gehört nicht immer zu meinen Stärken. In der Phase der Entdeckung machen wir uns jedenfalls ein viel weiteres und vollständigeres Bild von dem, was bei uns abgeht.

II. Phase der Entscheidung

Hier entscheide ich mich für oder gegen das Verzeihen. Klingt einfach, ist aber kompliziert. Denn: Robert Enright ist (wie ich) ein Fan von Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik den berühmten Satz geschrieben hat, dass eine einzige Schwalbe noch keinen Sommer macht. Will sagen: Wirkliche Veränderung erreichen wir über Wiederholung, dadurch, dass wir bestimmte Dinge immer und immer wieder tun oder denken. Denn eigentlich geht es nicht darum, meinem Expartner zu verzeihen, meinem Lehrer zu verzeihen, meinen Eltern oder wem auch immer. Sondern darum, ein verzeihender Mensch zu werden. Robert Enright sagt: In einer Verzeihens-Therapie lernt man, ein Mensch zu werden, der verzeihen kann. Und genau das ist der Punkt in dieser „Phase der Entscheidung“: Will ich das eigentlich, oder will ich das nicht?

III. Phase der Arbeit

Robert Enright nennt diese Phase ein wenig scherzhaft das „Fitnessstudio des Verzeihens“. Dahinter steht ein Gedanke, den man erstmal verdauen muss (naja: ICH musste ihn erstmal verdauen, er kam mir seltsam vor). Der Gedanke lautet: Man macht das mit dem Verzeihen nicht für den anderen. Man macht es für sich selbst. Doch um das hinzukriegen, muss man sich – auch das klingt paradox – zunächst auf den anderen konzentrieren. Wie ist dieser Mensch eigentlich aufgewachsen? Welche Verletzungen trägt er mit sich herum? Man kann noch einen Schritt weitergehen und sich sagen: „Ich besitze eine unantastbare Würde, weil ich ein Mensch bin. Trotz all meiner Schwächen und Fehler. Das heißt aber: Mein Täter hat auch eine unantastbare Würde. Weil er auch ein Mensch ist, genau wie ich.“ Diese „Phase der Arbeit“ dauert oft mehrere Wochen. Am Ende spürt man: Der andere ist viel, viel mehr als diese eine schlimme Tat, die mich so verletzt hat. Wenn alles klappt, weichen mein Zorn und mein Schmerz irgendwann einem Gefühl der Akzeptanz. Ich muss das Leid, das ich erfahren habe, nicht weitergeben oder heimzahlen. Ich lasse es gleichsam los.

IV. Phase der Vertiefung

In dieser Phase stellt sich in der Regel ein Gefühl der Erleichterung ein. Man hört auf, in seinen Gedanken um den Moment der Verletzung zu kreisen. Manche können sehen, dass die schlimme Erfahrung sie als Person sogar hat wachsen lassen. Vielleicht hat man eine neue Richtung im Leben eingeschlagen und einen tieferen Sinn in seiner Existenz entdeckt und ist ein Mensch geworden, der anderen mit mehr Mitgefühl begegnet? So endet mit Glück der ganze Prozess.

In seiner Standardform dauert so ein Prozess zwölf Wochen. Robert Enright macht das sogar im Hospiz. Verzeihen kann eine Form von Erlösung sein.

Klar: Therapie oder Coaching funktionieren selten wie das Backen von Apfelkuchen. Beschreibungen wie diese suggerieren, dass alles nach Plan und Rezept läuft, was es dann aber selten tut. Wie kann ich anderen verzeihen? Für mich sind die zentralen Botschaften aus Robert Enrights Modell: Ich verzeihe, weil es mir danach besser geht. Verzeihen ist keine Tat, sondern eine Haltung. Die Sache gelingt mit Übung und Regelmäßigkeit.

Wenn Du neugierig geworden bist und mehr übers Verzeihen wissen willst: Hör‘ gerne mal rein in unsere Podcast-Folge. Oder in andere Folgen. Würde mich freuen. Wenn Du gerne Unterstützung hättest und bei mir ein Coaching in Hamburg-Eppendorf buchen möchtest, findest Du hier die nötigen Infos.

Kleiner Gedanke zum Schluss: Wenn ich nachtragend bin – wer trägt da eigentlich?

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