Der Zauber einer Bibliothek vor der Erfindung des Internets

Dieser Tage musste ich an ein Abenteuer aus dem Studium denken, damals in Tübingen. Ich war im vierten Semester und eines der Seminare hieß so sinngemäß: „Wie schreibt man eigentlich einen Lexikonartikel?“ Ich so: Joa, warum nicht? – und hab mich angemeldet. Hat sich dann aber schnell gezeigt, dass die Dozentin die Sache sehr ernst meinte: Wir sollten WIRKLICH einen Lexikonartikel schreiben für ein wirkliches Lexikon. Am Ende des Semesters haben, wenn ich das richtig sehe, genau drei Teilnehmende die Sache durchgezogen. Einer davon ist jetzt Professor an genau dem Lehrstuhl, an dem wir damals studiert haben.

Der mir zugeordnete Artikel trug den Namen „Epanodos“. Es handelte sich um eine vergessene rhetorische Stilfigur, die keiner meiner verwendete und niemand mehr brauchte oder vermisste. Aber egal. Sie war nun mal da und deshalb hatten die Herausgeber ihr einen Platz zugedacht im gigantischen „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ – und zwar genau zwischen den nicht minder wichtigen Einträgen „Epanalepse“ und „Epenthese“.

Jeder musste zu Beginn des Semesters ein Referat über einen Aspekt der Figurenlehre halten und dann hat man jedem von uns eine Literaturliste in die Hand gedrückt und uns ein paar Wochen Zeit gegeben, das Material für unsere Artikel zu sammeln. In meinem Fall waren es mehr als 200 Bücher. Einige davon: antike griechische Schriften, die nur in Bruchstücken erhalten waren. Ich konnte kein Griechisch, aber ich wusste, wie meine Figur von den Griechen geschrieben wurde. Also … an die Zettelkästen gegangen, das griechische Werk über Stilfiguren rausgesucht, aha, es gab einen Band, in dem das Fragment mit abgedruckt war. Also das Buch bestellt und ausgeliehen und dann alles durchgelesen. Es war eine mühevolle Arbeit. Heute erledigt das eine Suchfunktion in weniger als einer Sekunde.

Dann tatsächlich: Da steht’s! Also die Seiten kopiert, das Buch zurückgegeben und rumgefragt … und tatsächlich einen Griechen gefunden, der damals Altphilologie studiert hat und sich mit rhetorischen Figuren auskannte. Er hat mir die Passage dann schnell beim Bier übersetzt. Und so ging’s weiter. Ich hab rund ein Dutzend antike Figurenlehren gelesen und die entsprechenden Passagen rausgeschrieben, dann ein paar Quellen aus der Spätantike, und danach ging’s über Renaissance, Barock, Aufklärung und so weiter bis heute. Die Bücher aus der Aufklärung waren besonders krass. Viele glaubten damals, dass alles mit allem zusammenhängt und man die Regeln nur finden und dem Universum sozusagen entreißen muss, um sie zu verstehen. Jede Figur, so war damals die These, ist mit einer bestimmten Gemütsregung des Menschen verbunden. Ich fand das aufregend und für einen kurzen Moment dachte ich: Genau so muss man’s machen. War aber natürlich Quatsch. Figuren und Emotionen sind nur lose miteinander verknüpft. Manchmal auch gar nicht.

Der für mich aufregendste Moment der Recherche waren die beiden Rhetorik-Bücher von Philipp Melanchthon. Melanchthon war ein wichtiger Reformator, er hat Luther dabei geholfen, die Bibel zu übersetzen. Jedenfalls hatte die alte Tübinger Bibliothek tatsächlich noch beide Rhetoriklehrbücher des Meisters irgendwo in trockenen, kühlen Speicherräumen gelagert. Und zwar: die Originalausgaben von fünfzehnhundertschießmichtot. Ich so: Okay, die muss ich lesen. Also einen Spezialantrag gestellt … und dann ging man einige Zeit später in einen sehr alten, holzvertäfelten Raum und ein alter Mann gab einem weiße Schutzhandschuhe, die musste man sich überstreifen und dann saß er daneben, während man las. Die Bücher waren furchtbar wertvoll. Und lange ungelesen: Beim Öffnen knackten Seiten und Umschlag wie die Dielen einer sehr alten und sehr unrenovierten Altbauwohnung. Es war ein heiliger Akt. Der Zauber einer Bibliothek vor Erfindung des Internets. Aber dann hatte Melanchthon, wenn ich mich richtig erinnere, nur die Passagen aus der pseudo-ciceronianischen „Rhetorica ad Herennium“ abgeschrieben wie alle anderen auch. Tja.

Was ich sagen will: Es hat Wochen gedauert, allein die ganzen Bücher zusammenzusuchen und in die Finger zu kriegen, zu lesen, abzuschreiben und wieder zurückzugeben. Fast in allen Büchern stand dasselbe. Allerdings kam es irgendwann zu einer kleinen Verschiebung. Jemand schrieb noch was anderes und ab dann haben das einige Fachleute auch mit abgeschrieben, aber ich weiß es nicht mehr genau.

Die jungen Leute können nicht erahnen, wie mühevoll der Zugang zu Wissen war, bevor Wikipedia und das Internet erfunden worden sind. Das Gedächtnis war viel wichtiger als heute.

Habe vorhin gegoogelt und gesehen, dass einige Fachbeiträge meinen Artikel zitiert haben: Da ist ein Aufsatz über mittelalterliche Kunstgeschichte, eine Dissertation über Thomas Bernhard, eine über den Minnesang, ein niederländisches Rhetorik-Lexikon. Es war also nicht alles umsonst. Und ein großes Abenteuer war es ohnehin. Es ist ein schönes Gefühl, sich daran zu erinnern. Ich habe Wochen meines Lebens mit einem versunkenen Konzept zugebracht und dabei eine Technik erlernt, die seither ebenfalls versunken ist. Und doch gibt mir all das eine andere, bessere Perspektive auf die heutige Zeit.

Ach so. Ein Beispiel für „Epanodos“ ist der Satz: „Du bist schön. Schön bist du.“ Man wiederholt einen Satz, dreht ihn dabei aber um. Man hätte sich die Sache auch sehr einfach machen können.

1 Kommentar

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  1. […] Jochen schreibt über Bibliotheken damals, über Bibliotheken damals schreibt Jochen (das klärt sich dann schon auf, warum das da so seltsam steht). Ich erinnerte mich beim Lesen an eine kurze Phase, in der ich in der Hamburger Zentralbibliothek, damals noch an anderem Standort in der Innenstadt, im Auskunftsdienst Praktikum gemacht habe. Damals, als ich das Bibliothekswesen studiert und nebenbei gejobbt habe, was sich aber in Wahrheit eher andersherum verhielt. Ich war darin gut, fand ich, in diesem Auskunftsdienst, schon weil es mich viel mehr interessierte als die anderen Studentinnen und Studenten, die andere Aspekte des Berufs wesentlich anziehender fanden und die Fragen der manchmal auch als lästig empfundenen Besucherinnen eher nicht. Ich aber war auf dieses Suchen und Finden geradezu scharf, das Wort passt schon. Es gab Momente, da kamen Kundinnen auf mich zu, stellten eine Frage und ich ahnte schon, noch während sie im ersten Halbsatz waren, dass ich da gleich helfen können würde, weil ich wusste, dass in dieser riesigen Bibliothek, in diesem einen Regal da im anderen Stockwerk, in der unteren Reihe, etwas stand, das dann auf etwas verweisen würde, in dem dann stand, wo man … ich fand das ungeheuer aufregend. Man muss sich das viel körperlicher als heute vorstellen, man lief über Treppen und durch Gänge von einer Fundstelle zur anderen, es war Bewegung darin, man telefonierte vielleicht auch, man sprach mit Leuten, man bückte sich an Regalen und blätterte und schob Bücher. Und ich denke heute noch manchmal, dass diese Stunden beruflich recht gute Momente waren. Ich bin dann später woanders abgebogen, was den Job betrifft, und richtig war das nicht, wie ich Jahrzehnte später erst ernüchtert festgestellt habe. Na, man macht Fehler und man muss sich auch verzeihen können. […]

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